In wenigen Tagen wählen wir in Europa ein neues Parlament. Die Zeiten sind rauer geworden – und die europäische Idee gerät durch Populisten und Rassisten in Gefahr. Auch wenn Europa zunächst als wirtschaftliches und politisches Projekt gestartet – und deswegen immer noch zuweilen intransparent, schwerfällig und antidemokratisch ist (oder habt ihr jemals die Mitglieder der Eurogruppe, die über das Schicksal Griechenlands entschied, gewählt?), so ist es doch ein Kontinent der Menschen. Nicht zuletzt durch das Erasmusprogramm, welches seit mehr als 30 Jahren knapp neun Millionen Menschen zueinander gebracht hat.
Kurz nach dem 11. September 2001 begann meine Erasmus-Zeit. Für mich ging es nach Bristol, auf die Westhälfte der britischen Inseln. Als Student der Geschichtswissenschaften an der University of Bristol hatte ich kaum Anpassungsschwierigkeiten: Zwar war das Kurssystem und die damit verbundene Bewerbung um freie Plätze für mich ungewohnt und auch schien die Arbeitsbelastung durch das Verfassen gleich mehrerer Essays pro Kurs höher, doch ich habe davon nur profitiert. Am Ende meiner acht Monate in England war ich überzeugt, meine Magisterarbeit erfolgreich in Angriff nehmen zu können. Diese Welle akademischen Selbstbewusstseins, einer im Auslandsstudium neu erlernten und extrem effizienten Arbeitsweise trug mich schließlich bis zur Promotion.
Aber natürlich merkte ich das erste Mal was es heißt, dauerhaft „der Neue“, „der Fremde“ oder „der Deutsche“ zu sein. Einmal, im Stalinismus-Kurs bei Cathy Merridale, kritisierte die Historikerin die sprachlichen Leistungen der letzten Essays. Automatisch, aber nicht aus böser Absicht, gingen die Blicke fast des gesamten Kurses zu mir, dem Nicht-Muttersprachler. Die Dozentin machte aber schnell deutlich, dass ich eben nicht damit gemeint sei. Und schnell wurde aus Mitleid auch ein wenig Hass… Und natürlich wurde hämisch-ehrlich gelacht, wenn statt „secede“ das Wort „seduce“ im Zusammenhang mit den Aktivitäten Lenins nach der Oktoberrevolution umschrieb.
Ein anderes Mal, wir lebten in sechs Häusern mit gemeinsamem Garten in der Hepburn Road, sprach mich eine Studentin aus einem der anderen Häuser an (Wir hatten schon vorher öfters was mit einer gemeinsamen Freundin, Lucy, unternommen.) Die Studentin eröffnete mir, dass ihr Großvater die Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg hasse und ich der erste Alman sei, bei dem sie ihre eigene Abneigung überwunden und Gespräche begonnen habe. Kurz danach fiel mir ein, wie mein eigener Großvater über die ehemaligen Kriegsgegner (Tommies, Amis und Ivans) geredet hatte. Meine Generation hatte und hat das große Glück, gleichaltrigen Europäern nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in Frieden begegnen zu können!
Wenn es mir in meiner 6er-WG (2 Französinnen aus einem Überseedepartment, eine Finnin, eine Slowakin, eine Deutsche und ich als Kerl) zu anstrengend wurde, ging ich mit Fabrizio aus Sizilien nebenan in den Pub. Er konnte zwar kaum Englisch, aber es reichte, mir exakt eine Geschichte zu erzählen.Und die ging so: „You know, in Sicily I like to ride the motorbike. And look at all the beautiful girls.” Danach verständigten wir uns wortlos und waren beide glücklich, dem heimatlichen Matriarchat wenigstens ein paar Stunden entkommen zu sein. Auch wenn ich nur ein paar Monate in Bristol war – im Rückblick fühlt es sich doch eher wie mehrere Jahre an, so intensiv war das Erleben.
Am Wochenende okkupierte ich das WG-Wohnzimmer. Nach durchzechter Freitag-Nacht kurierte mich mit dem TV-Programm (SMTV Live, Grandstand, Robot Wars uvm). Dabei genoss ich es, auf dem alten, aber dennoch halbwegs soliden Fernseher ein klares Bild zu empfangen. Denn schon als Schüler konnte ich – je nach Wetterlage – das Programm der „British Forces Broadcasting Services“ (SSVC TV) empfangen, quasi ein Best-Of des britischen TV inkl. Live-Übertragungen von meinem zweitliebsten Klub, Manchester United. Und auch sonst war der Medienkonsum überraschend: Einmal las ich im Guardian, wie das deutsche Krankenkassen- und Krankenhaussystem im Gegensatz zum „National Health Service“ in den Himmel und als mögliches Reformvorbild gelobt wurde, ein anderes Mal sah ich, wie BBC-Reporter John Simpson Kabul im Alleingang von den Taliban befreite…
Dieses Erinnerungs-Potpourri zeigt, dass es für mich ein extremes Glück war, ein paar Monate an einer englischen Uni studieren zu können. Die Voraussetzungen waren gut: ich kannte die Sprache, ich kannte sogar die Kultur. Und wenn man als Deutscher erstmal „Two World Wars“ mit (damals) „Three World Cups“ konterte, war der Abend sowieso gerettet. Heute gibt es aber Erasmus+ – was sich auch an Azubis und Berufstätige richtet. Junge Männer und Frauen reisen quer durch den Kontinent, verlassen ihre Komfortzone, um neue Erfahrungen zu sammeln. Vor ihnen ziehe ich meinen Hut, denn ganz so mutig war ich dann doch nicht.
Zum Abschluss noch eins: Auch wenn euch Europa egal ist, geht bitte am 26.5 zur Wahl. Europa ist zu wichtig, um es irgendwelchen Politikern zu überlassen, die es als Bühne oder Goldesel nutzen wollen. Und wenn ihr glaubt, dass Europa eh nicht mehr zu retten ist, dann schaut euch bitte „Demokratie in Europa – DIEM25“ an. Nach meinen Recherchen ist dies die einzige Partei, die mit einem gesamteuropäischen Programm antritt und bsp. auch sagt, wie sie die 500Mrd. Euro pro Jahr fürs Klima finanzieren möchte.