Wer braucht heute eigentlich noch Journalisten? Zwar erzählen Print-Adepten tagein, tagaus, dass sie auch im Zeitalter digitaler Medien noch „tolle Geschichten“ erzählen wollen, die „die Menschen wirklich bewegen“. Doch seit dem Coup von Red Bull pfeifen es die Spatzen besonders laut von den Dächern: Marken sind die besseren Medien und haben die interessanteren Geschichten zu bieten. Welche Rolle spielen Journalisten also in unserer Gesellschaft und wer kann sie ersetzen? Der Medienlotse gibt Antworten:
1. Auflage/Klicks statt Fakten
Als Helmut Markwort seinen „Focus“ mit den Worten „Fakten, Fakten, Fakten“ zu bester TV-Werbezeit in den 90ern in die Köpfe der Deutschen hämmerte, war das Kind schon in den Brunnen gefallen. Dort blühte nicht etwa der investigative Journalismus der 70er wieder auf (Watergate!), sondern das Blatt aus dem Hause Burda setzte auf vermeintlich trendige Themen wie „Die besten Ärzte“ oder „Der große Immobilienatlas“. Hätte es damals schon Suchmaschinen gegeben, „Focus“ wäre wohl gerne ein solche geworden. Alles, was seitdem zählt, sind Klicks oder Auflage.
2. Ich mach die Welt, wie sie mir gefällt
In einer Zeit, in der der Journalismus den Bach runtergeht, gibt es Hunderte Beispiele von inkompetenten oder schlichtweg dreisten oder dummen Journalisten. Der ehemalige Handelsblatt-Redakteur (Ex-Journos sind gerne genauso millitant wie Ex-Raucher) Thomas Knüwer dokumentiert in seinem Blog „Indiskretion Ehrensache“ gerne mit spitzer Feder die Verfehlungen einzelner Redakteure oder die inkompetenten Digitalstrategien ganzer Medienhäuser. Zuletzt machte er auf eine Spiegel-Story aufmerksam, in der der Redakteur einfach Tatsachen erfindet, die nie stattgefunden haben.
3. Auf allen Augen blind
Unsinnige Erregungsspiralen und Shitstorms finden nicht nur im Internet statt. Auch die Presse ist vor derlei intellektueller Schnappatmung oft nicht gefeit. Beispiele gefällig? Wir sterben wahlweise jedes Jahr an der Schweinegrippe, Dioxin-Eiern oder doch der Vogelgrippe. Gerade viele Online-Angebote machen sich nicht mehr die Mühe, zwischen PR-Meldungen und guter Recherche zu unterscheiden und hauen alles ins Netz – Hauptsache, die Klicks stimmen und die Werbekunden buchen. Auch beißen Journos selten die Hand, die füttert. Warum finden sich sonst so viele Polizeidarstellungen ungefiltert in den Medien?
4. Deutungsprimat verloren
Vielleicht war der Journalismus mal so etwas wie die „vierte Gewalt“ im Staat, die Politik, Wirtschaft und Justiz kontrolliert und mit kritischen Berichten triezt. Seitdem haben sich Politik und Presse immer mehr angenähert und sind mittlerweile mit derselben Kurzsichtigkeit geschlagen. Kaum ein Journalist, der die großen Linien erkennt und sich noch an umfangreiche Erzählungen wagt. Wichtig ist nämlich nicht, was die Presse interessiert, sondern was Menschen und Gesellschaft nach vorne bringt.
5. Geschichtsvergessenheit
Ein kleiner Ausflug in die Geschichte mag uns die Augen öffnen: Mit dem Ölpreisschock endete 1973 das lange Wachstum und die Stabilität der Nachkriegsjahre. Für die kommenden zehn Jahre wurde die internationale Gemeinschaft immer wieder von Krisen durchschüttelt: Terrorismus, Währungsschwankungen, Inflation, Depression, Wirtschaftspleiten und Branchenkrisen. Das klingt doch alles irgendwie bekannt, oder? Aber warum bemüht sich kein Medium um eine echte Einordnung der immerwährenden EU-Krisengipfel, Terroranschlägen und Firmeninsolvenzen? Ist es wirklich besser, wenn die Menschen dumm sterben?
6. German Angst everywhere
In diesem Jahrzehnt entstand auch so etwas wie die „Deutsche Angst“. Nicht nur die Grünen, sondern breite Teile der Gesellschaft hatten Anfang der 80er Angst vor dem Waldsterben, der Nukleartechnik, Raketen oder Terrorismus. Seitdem hat sich eigentlich nichts geändert – und die Medien verdienen gut daran, mit immer neuen „Breaking News“ die Angst hochzuhalten. Das führt dann leider dazu, dass das Internet und die Digital-Chancen hierzulande immer noch nicht verstanden wurden und die Energie beispielsweise für das Leistungsschutzrecht verplempert wird.
Wie gezeigt, liegt der Journalismus also am Boden und hat seine vermeintliche Primatstellung als gutes Gewissen der Gesellschaft schon längst verloren. Verleger und Chefredakteure verfolgen ganz eigene Ziele, die nicht immer mit denen der Leser und Gesellschaft konform sind. Stattdessen ergötzen sich viele an der eigenen Selbstreferenzialität, wenn Zeitungen TV-Macher interviewen oder umgekehrt.
Aber wer kann dann heute noch als Mahner oder Inspirator auftreten, wenn nicht die Presse, Medien und Journalisten? Zu Kaisers Zeiten galt noch das Militär etwas, aber das ist lange her. Die Politik? Steckt in ständigen Diadochen- und Wahlkämpfen. Die Wirtschaft? Hat nicht erst seit der Finanzkrise jegliche Reputation verloren. Lehrer und Bildungseinrichtungen? Sind leider, leider immer noch im Käfig der Angst gefangen. Wer bleibt dann eigentlich noch übrig?
Nun, für einige mag es überraschend sein, aber wieder einmal könnten Historiker zum Retter des Abendlandes werden. Nur sie verfügen über das nötige Wissen geschichtlicher Abläufe und sind in der Lage, daraus Handlungsempfehlungen für vielerlei gesellschaftliche Gruppen zu formulieren. Auch können sie die Geschwindigkeit von Abläufen und Entwicklungen einordnen und Aussagen über die zukünftigen Entwicklungen treffen. Klingt komisch, ist aber so. Wenn in Deutschland Historiker also endlich nicht mehr im wissenschaftlichen Elfenbeinturm hocken bleiben und stattdessen anfangen, zu bloggen, zu twittern und zu schreiben – ja, dann hat unsere Gesellschaft noch eine Chance. Ansonsten werden wir in der Kakophonie der derzeitigen Medien verblöden.