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Beengte digitale Welten

Nach den Prüfungen wollte Dennis einfach nur feiern. Da traf es sich gut, dass er sich mit einigen Freunden abends am Baggersee verabredet hatte. Der lag nicht weit entfernt von seinem elterlichen Haus und auch die anderen aus der Stadt konnten bequem mit ihren tiefergelegten Golfs vorfahren. Nachdem die ersten Kofferräume voller Bier geöffnet waren, entwickele sich eine wilde Party. Der Bass wummerte bis in den nahe gelegenen Wald und das Wasser regte die Fantasie der alkoholisierten Avantgarde von übermorgen an. Der Ort war ideal, keine Eltern weit und breit. Zwar sah man nachts einige Lichter auf der nicht weit entfernten Straße, aber das können auch Schnapsdrosseln sein, die sich auf den Weg in den Nachbarort machten oder Hundebesitzer auf einer späten Runde. Irgendwann schleppte sich Dennis nach Hause und war froh, endlich seinen Schlüssel aus der Tasche gekramt zu bekommen und die Haustür zu treffen. Müde, matt, marode ließ er sich auf sein Bett fallen und träumte die Träume, die nur Menschen in jungen Jahren zu träumen wissen. Am nächsten Morgen dröhnte sein Kopf und Dennis wurde durch lauter Geräusche vor seiner Tür geweckt. Wutentbrannt stürmte sein Vater ins Zimmer und hielt ihm die lokale Zeitung vor die Nase. Nur mühsam konnte Dennis entziffern, was dort in großen Lettern auf der ersten Seite stand: Chaoten zerstören Nutzpflanzen bei Gelage. Dennis hatte keine Ahnung, wie es dazu kommen konnte, das überhaupt jemand von ihrem Treffen Notiz genommen hatte. Diesen Part übernahm sein Vater, ein glühender Anhänger von Sherlock Holmes und erklärte, dass es sich bei einem der Spaziergänger um die Frau des Vorsitzenden des Schützenvereins gehandelt habe, die sogleich ihrem Mann – der im Partykeller des Eigenheims mit einigen Schützenbrüdern den Likörbestand dezimierte – berichtete, dass sich einige Zöglinge von geschätzten Mitgliedern der Gemeinschaft an der jungen Baumgruppe am Baggersee zu schaffen machten, die der Verein zum Volkstrauertag im vorvergangenen Jahr dort gepflanzt hatte. Mit hochrotem Kopf stürmte der Vorsitzende überhastet zum Telefon und informierte den Polizeiwachtmeister über das Treiben am Wald, der sogleich zu einer Kontrollfahrt aufbrach. Als altgedienter Hippie hatte Sympathien für die Jugendlichen, kam jedoch dennoch nicht umhin, einen Eintrag in sein Diensttagebuch zu machen. Bei Gelegenheit würde er die Jugendlichen auf ihren Fehler aufmerksam machen und sie dazu bringen, auf eigene Kosten neue Setzlinge zu besorgen. Damit war sein anstrengender Diensttag auch beendet und was gab es Besseres, als diesen bei einem kühlen Schoppen in der nahe gelegenen Klause ausklingen zu lassen? Dort saß schon auch schon der emsige Zeitungsvolontär aus der Stadt, der geradewegs Stift und Zettel beiseitelegen wollte, als er noch nach der dritten Runde den Aufmacher für den nächsten Tag serviert bekam…

Das klingt unglaubwürdig, finden Sie? Nein, denn erstens funktionieren enge (dörfliche) Gemeinschaften nun mal so und auch das weltweite Netz ist nichts anderes als ein globales Dorf. Wer sich in die Netzöffentlichkeit begibt muss damit rechnen, von Leuten angesprochen, bewertet, gelobt, ausgelacht oder verballhornt zu werden, die er nur vom Hörensagen oder schlichtweg überhaupt nicht kennt. Für Dörfler ist das nicht neu, sie wissen, wie sie sich vor den neugierigen Augen der Nachbarn, Feuerwehrkameraden, Schützenbrüder oder Sangesschwestern verbergen, kennen aber wiederum genügend eigene oder fremde Beispiele, wo die Verteidigungslinie nicht gehalten hat.

Für Großstadtbewohner mutet das natürlich alles sehr befremdlich an. Nicht wenige von ihnen sind gerade aus diesen Gründen aus der dörflichen Enge und Kontrolle entflohen. Im Jubeltaumel über die sich auflösenden Milieus und die digitalen Möglichkeiten der Selbstinszenierung wurde in den vergangenen Jahren aber zunehmenden übersehen, dass es sich beim Internet nicht um viele abgeschlossene und anonyme Communities handelt, sondern um einen großen öffentlichen Raum. Nicht zuletzt Google hat mit seiner Suchmaschinendurchdringung dazu beigetragen, den ländlichen Charme wieder fest im globalen Dorf zu verankern. Ja, richtig gehört. Das Netz wurde schon in den frühen Neunzigern als das globale Dorf bezeichnet, aber kein Webexperte oder digitaler Bohème hat bisher die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Dorfkindern dürfte es also einfacher fallen, die ungeschriebenen Regeln des Internets zu beachten und nicht andauernd alle persönlichen Daten, Vorlieben und Neigungen hinauszuposaunen. Anders ausgedrückt: Anonymität und Individualität sind im 21. Jahrhundert nur eine Chimäre – genauso wie in den Dekaden davor.

My Axolotl: Dieser Text ist inspiriert von der New York Times.

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